Als ich all das gelesen hatte, war mir sofort klar: Die Agrarbehörde war in diesem Fall keineswegs so vorgegangen, wie es von einer neutralen und um Gesetzmäßigkeit bemühten Behörde erwartet werden könnte (mehr). Sie hat rechts- und pflichtwidrig gehandelt und der Allgemeinheit dadurch einen enormen Schaden zugefügt. Selbst wenn man den Wert dieser Fläche mit nur einem Euro pro Quadratmeter bewertet (obwohl auch fast alle Baugrundstücke der Gemeinde jetzt der Agrargemeinschaft gehören), ergibt sich ein Wert von fast 43 Millionen Euro.
Diese Entdeckung war mir alles andere als angenehm. Mir war klar: Alles, was ich als Vertreter einer Gemeinde tun und vorbringen würde, würde auch an die Öffentlichkeit gelangen. Oberstes Organ der Gemeinde ist ja der Gemeinderat. Dem musste ich daher wahrheitsgemäß und vollständig berichten und konnte daher gerade so wichtige Dinge, wie ich sie festgestellt hatte, unmöglich verschweigen. Schließlich dürfte es für einen Gemeinderat, der darüber abstimmen muss, ob die Gemeinde die Sache weiter verfolgen soll, einen entscheidenden Unterschied machen, ob eine für die Gemeinde sehr nachteilige Entscheidung auf einer Rechtsansicht beruht, die vielleicht zwar nicht richtig ist, aber sich doch in einem Rahmen hält, über den man diskutieren kann, oder ob der Verdacht besteht, dass die Gemeinde Opfer einer gröblichen Pflicht- und Rechtsverletzung geworden ist.
Dass alle Gemeinderäte für sich behalten würden, was sie anlässlich eines solchen Berichtes erfahren mussten, war nicht zu erwarten, ja angesichts der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzungen auch gar nicht möglich.
Dazu kam, dass jetzt natürlich rechtliche Schritte gegen die Agrargemeinschaft notwendig wurden, die Herr Bürgermeister Mag. Schönherr ja in der Dorföffentlichkeit rechtfertigen musste.
Es war mir aber klar, dass ich mir Feinde machen würde, wenn ich den von mir festgestellten Sachverhalt publik machen würde. Für viele ist ja derjenige der Übeltäter, der ein Unrecht aufdeckt und es als solches bezeichnet.
Was aber hätte ich tun sollen? Meine Entdeckungen für mich zu behalten, wäre nicht in Frage gekommen. Damit hätte ich meine Pflicht als Anwalt gröblichst verletzt, ja ich wäre unter Umständen sogar schadenersatzpflichtig geworden. Wenn schon, hätte ich es ablehnen müssen, die Gemeinde Neustift zu vertreten. Das wäre aber jedenfalls auch problematisch gewesen, weil durch meine Einsichtnahme in den Regulierungsakt ja Fristen (insbesondere die nur 14 Tage betragende Frist, eine sogenannte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen) ausgelöst wurden, und diese Frist wohl niemals eingehalten werden hätte können, wenn die Gemeinde Neustift nach meiner Einsichtnahme erst einen anderen Vertreter suchen und beauftragen hätte müssen. Davon abgesehen habe ich mir aber auch gesagt, dass es nicht meine Aufgabe als Anwalt sein kann, in so einer Situation zu kneifen. Schließlich liegt die Aufgabe einer freien Anwaltschaft eben gerade auch darin, gegen Übergriffe der Obrigkeit aufzutreten, wenn solche geben sollte.
Also habe ich das Mandat der Gemeinde Neustift angenommen bzw. weitergeführt. Seither ist das Thema massiv öffentlich diskutiert worden, wie ich es erwartet hatte. Jetzt ist es wieder etwas stiller geworden, weil der Fall Neustift jetzt bei den Höchstgerichten liegt.
Inzwischen habe ich erfahren, dass nicht nur der Gemeinde Neustift ihr Gemeindegut weggenommen wurde, sondern auch den meisten anderen Tiroler Gemeinden. Insgesamt soll es sich dabei um eine Fläche von rund 2.000 km²(!) handeln, die den Tiroler Gemeinden (und damit der Allgemeinheit) genommen und einigen wenigen alteingesessenen Bauern zugeschoben wurden.
Am 4.5.2005 erklärte Bauernbundobmann Anton Steixner in der Fernsehsendung Tirol heute, die Übertragung des Eigentums von den Gemeinden auf die Agrargemeinschaften sei politisch gewollt gewesen. Landeshauptmann Wallnöfer sei stolz darauf gewesen, dass dies gelungen sei. Tatsächlich finden sich in den Akten immer wieder diverse Schreiben des damaligen Landesrates Wallnöfer, der eine Beschleunigung der Verfahren wünschte.
Natürlich hat mich brennend interessiert, wie denn die Agrarbehörde diese Vorgangsweise begründete (im Bescheid, mit dem der Gemeinde Neustift ihr Eigentum am Gemeindegut genommen wurde, stand ja nichts drinnen).
Ich habe mich daher mit der Rechtslage des 19. Jahrhunderts und mit der geschichtlichen Entwicklung des Gemeindegutes ausführlich befasst.
Schließlich erhielt ich auch noch ein vom damaligen Leiter der Agrarbehörde verfasstes Manuskript für einen am 23. Oktober 1957 vor den Agrarbehördenleitern Österreichs gehaltenen Vortrag, das später praktisch wörtlich auf den Seiten 251 bis 267 des Tiroler Bauernkalenders 1966 abgedruckt wurde. Allerdings musste ich feststellen, dass die darin enthaltenen Behauptungen mit den Rechtsquellen des 19. Jahrhunderts (und der historischen Fachliteratur) nicht im entferntesten übereinstimmten. Diese theoretische Rechtfertigung für die geradezu katastrophale Vorgangsweise der Agrarbehörde in den 1950er und 1960er Jahren stellte nur eine Anhäufung von juristischen Erfindungen und unhaltbaren Thesen dar, und dürfte daher nur den Zweck gehabt haben, für diese politisch gewollte aber krass rechtswidrige Vorgangsweise eine Scheinbegründung zu liefern. Erstaunlich finde ich allerdings, welche Verbreitung diese vollkommen falsche Darstellung der historischen Rechtsverhältnisse inzwischen gefunden hat und teilweise immer noch findet.
Deshalb habe ich mich entschlossen, die Rechtsgeschichte des Gemeindegutes, wie sie sich aus den von mir eingesehenen historischen Quellen ergibt, darzustellen.